Und Deutschland bog sich gleich zu Beginn, um später dann beim
vollständigen Bruch zu enden.
Mit der Besetzung des Ruhrgebietes hat das Schicksal noch einmal dem deutschen Volk die Hand zum
Wiederaufstieg geboten. Denn was im ersten Augenblick als schweres Unglück erscheinen mußte,
umschloß bei näherer Betrachtung die unendlich verheißende Möglichkeit zur Beendigung des
deutschen Leidens überhaupt.
Außenpolitisch hat die Ruhrbesetzung Frankreich zum erstenmal England wirklich innerlich entfremdet, und zwar nicht nur den Kreisen der britischen Diplomatie, die das französische Bündnis an sich nur mit
dem nüchternen Auge kalter Rechner geschlossen, angesehen und aufrechterhalten hatten, sondern auch
weitesten Kreisen des englischen Volkes.
{768 Die Besetzung des Ruhrgebietes}
Besonders die englische Wirtschaft empfand mit schlecht verhehltem Unbehagen diese weitere
unglaubliche Stärkung der kontinentalen französischen Macht. Denn nicht nur, daß Frankreich, rein
militärpolitisch betrachtet, nun eine Stellung in Europa einnahm, wie sie vordem selbst Deutschland
nicht besessen hatte, erhielt es nun auch wirtschaftlich Unterlagen, die seine politische
Konkurrenzfähigkeit wirtschaftlich fast mit einer Monopolstellung verbanden. Die größeren
Eisengruben und Kohlenfelder Europas waren damit vereint in den Händen einer Nation, die ihre
Lebensinteressen, sehr zum Unterschied von Deutschland, bisher ebenso entschlossen wie aktivistisch
wahrgenommen hatte, und die ihre militärische Zuverlässigkeit in dem großen Krieg aller Welt in
frische Erinnerung brachte. Mit der Besetzung der Ruhrkohlenfelder durch Frankreich wurde England
sein ganzer Erfolg des Krieges wieder aus der Hand gewunden, und Sieger war nun nicht mehr die
emsige und rührige britische Diplomatie, sondern Marschall Foch und sein durch ihn vertretenes
Frankreich.
Auch in Italien schlug die Stimmung gegen Frankreich, die ohnehin seit Kriegsende nicht mehr gerade
rosig war, nun in einen förmlichen Haß um. Es war der große geschichtliche Augenblick, in dem die
Verbündeten von einst Feinde von morgen sein konnten. Wenn es doch anders kam und die
Verbündeten nicht, wie im zweiten Balkankrieg, nun plötzlich untereinander in Fehde gerieten, dann
war dies nur dem Umstand zuzuschreiben, daß Deutschland eben keinen Enver Pascha besaß, sondern
einen Reichskanzler Cuno.
Allein nicht nur außenpolitisch, sondern auch innerpolitisch war für Deutschland der Ruhreinfall der
Franzosen von größter Zukunftsmöglichkeit. Ein beträchtlicher Teil unseres Volkes, der, dank
unausgesetzten Einflusses seiner lügenhaften Presse, Frankreich noch immer als den Kämpfer für
Fortschritt und Liberalität ansah, wurde von diesem Irrwahn jäh geheilt. So wie das Jahr 1914 die
Träume internationaler Völkersolidarität aus den Köpfen unserer deutschen Arbeiter verscheucht hatte
und sie plötz-
{769 Was war nach der Ruhrbesetzung zu tun?}
lich zurückführte in die Welt des ewigen Ringens, da sich allüberall ein Wesen vom anderen nährt und
der Tod des Schwächeren das Leben des Stärkeren bedeutet, so auch das Frühjahr 1923.
Als der Franzose seine Drohungen wahr machte und endlich im niederdeutschen Kohlengebiet, erst noch
sehr vorsichtig und zaghaft, einzurücken begann, da hatte für Deutschland eine große, entscheidende
Schicksalsstunde geschlagen. Wenn in diesem Augenblick unser Volk einen Wandel seiner Gesinnung
verband mit einer Änderung der bisherigen Haltung, dann konnte das deutsche Ruhrgebiet für
Frankreich zum napoleonischen Moskau werden. Es gab ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ließ
sich auch das noch gefallen und tat nichts, oder man schuf dem deutschen Volk, mit dem Blick auf das
Gebiet der glühenden Essen und qualmenden Öfen, zugleich den glühenden Willen, diese ewige
Schande zu beenden und lieber den Schrecken des Augenblicks auf sich zu nehmen, als den endlosen
Schrecken weiter zu ertragen.
Einen dritten Weg entdeckt zu haben, war das "unsterbliche Verdienst" des damaligen Reichskanzlers
Cuno, und ihn bewundert und mitgemacht zu haben, das noch "ruhmvollere" unserer bürgerlichen Parteienwelt.
Ich will hier zuerst den zweiten Weg, so kurz als nur möglich, einer Betrachtung unterziehen: Mit der
Besetzung des Ruhrgebietes hatte Frankreich einen eklatanten Bruch des Versailler Vertrages vollzogen.
Es hatte sich damit auch in Gegensatz gestellt zu einer Reihe von Garantiemächten, besonders aber zu
England und Italien. Irgendwelche Unterstützung von diesen Staaten für seinen egoistischen eigenen
Raubzug konnte Frankreich nicht mehr erhoffen. Das Abenteuer, und ein solches war es zunächst,
mußte es also selbst zu irgendeinem glücklichen Ende bringen. Für eine nationale deutsche Regierung
konnte es nur einen einzigen Weg geben, nämlich den, den die Ehre vorschrieb. Es war sicher, daß man
zunächst nicht mit aktiver
{770 Was war nach der Ruhrbesetzung zu tun?}
Waffengewalt Frankreich entgegentreten konnte; allein es war notwendig, sich klarzumachen, daß alles
Verhandeln ohne Macht hinter sich lächerlich und unfruchtbar sein würde. Es war unsinnig, sich ohne
Möglichkeit eines aktiven Widerstandes auf den Standpunkt zu stellen: "Wir gehen zu keiner
Verhandlung"; aber es war noch viel unsinniger, dann endlich doch zur Verhandlung zu gehen, ohne
sich unterdes eine Macht geschaffen zu haben.
Nicht als ob man die Ruhrbesetzung durch militärische Maßnahmen hätte verhindern können. Nur ein
Wahnsinniger konnte zu einem solchen Entschlusse raten. Allein, unter dem Eindrucke dieser Aktion
Frankreichs und während der Zeit ihrer Ausführung konnte und mußte man darauf bedacht sein, ohne
Rücksicht auf den von Frankreich selbst zerfetzten Vertrag von Versailles, sich derjenigen militärischen
Hilfsmittel zu versichern, die man später den Unterhändlern auf ihren Weg mitgeben konnte. Denn das
war von Anfang an klar, daß eines Tages über dieses von Frankreich besetzte Gebiet an irgendeinem
Konferenztisch entschieden werden würde. Aber ebenso klar mußte man sich darüber sein, daß selbst
die besten Unterhändler wenig Erfolge zu erringen vermögen, solange der Boden, auf dem sie stehen,
und der Stuhl, auf dem sie sitzen, nicht der Schildarm ihres Volkes ist. Ein schwaches Schneiderlein
kann nicht mit Athleten disputieren, und ein wehrloser Unterhändler mußte noch immer das Schwert des
Brennus auf der feindlichen Waagschale dulden, wenn er nicht sein eigenes zum Ausgleich
hineinzuwerfen hatte. Oder war es nicht wirklich ein Jammer, die Verhandlungskomödien ansehen zu