Es würde Tage dauern, bis die Männer das gesamte Gebiet abgesucht hatten und sich in der Mitte trafen, aber schließlich würden sie ihn erwischen. Sobald eine der Gruppen in schwierigem Gelände aufgehalten wurde, würde man den übrigen über Funk den Befehl erteilen, ihren Vormarsch ebenfalls zu verlangsamen. Auf diese Weise würde man Lücken in der geschlossenen Kette vermeiden. Außer denen, die beabsichtigt waren und Fallen darstellten. Dort lag jeweils eine Gruppe Männer im Hinterhalt, um den Jungen zu fangen, falls er durch die scheinbare Lücke zu entkommen versuchte. Der Junge. Auch jetzt, wo Teasle seinen Namen kannte, nannte er ihn immer noch den Jungen.
Gegen Sonnenaufgang schien die Luft feuchter zu werden.
Er deckte Trautman mit einer Militärdecke zu und legte sich auch eine um die Schultern. Auch bei der besten Planung blieb immer noch etwas zu tun, etwas nachzuholen, was vergessen worden war. Das wußte er noch von seiner Ausbildungszeit in Koreaner, und auch Trautman hatte darauf hingewiesen. Er würde den gesamten Plan noch einmal durchgehen und vielleicht etwas finden, was man nicht beachtet hatte. Trautman hatte Hubschrauber angefordert, um Truppen auf den höchsten Kämmen und Gipfeln auszusetzen, von wo aus sie den Jungen aufspüren konnten, falls er vor den Verfolgern her lief. Es war nicht ungefährlich gewesen, die Leute im Dunkeln von den Hubschraubern abzuseilen, aber glücklicherweise war alles ohne Unfälle abgelaufen. Trautman hatte auch angeregt, Hubschrauber einzusetzen, die aus Lautsprechern falsche Weisungen übermittelten, und auch das war getan worden. Trautman nahm an, daß der Junge sich nach Süden absetzen würde, die gleiche Richtung, die er im Krieg bei seiner Flucht aus der Ge-fangenschaft eingeschlagen hatte. Also hatte man die südliche Linie verstärkt, bis auf die absichtlichen Lücken, die, wie gesagt, als Fallen dienten.
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Teasles Augen brannten vor Übermüdung, aber er konnte nicht schlafen, und nachdem er angestrengt überlegt hatte, was er vergessen haben könnte, und nichts fand, begann er an Dinge zu denken, die er doch lieber vergessen hätte. Er hatte derartige Gedanken die ganze Zeit verdrängt. Aber jetzt, als die Kopfschmerzen wieder einsetzten, kamen die Geister ganz von selbst, ihn zu plagen.
Orval und Shingleton. Das wöchentliche Abendessen bei Orval. »Ein guter Anfang für das Wochenende«, pflegte Mrs.
Kellerman zu sagen, wenn sie ihn am Tag vorher auf der Wache anrief, um ihn zu fragen, worauf er Appetit habe. Worauf denn? Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Er hatte sie nie Beatrice genannt. Immer Mrs. Kellerman. Das hatte er be-schlossen, als sein Vater erschossen worden war und er zu ihnen zog. ›Mutter‹ wollte er sie nicht nennen, und ›Tante Beatrice‹ hatte auch nicht den richtigen Klang, also nannte er sie Mrs. Kellerman. Orval gefiel das. Er selbst war dazu erzogen worden, seinen Vater mit ›Sir‹ und seine Mutter mit ›Ma’am‹
anzusprechen. Bei Orval war es einfacher. Zu Vaters Lebzeiten hatte er so oft bei ihnen im Hause verkehrt, daß Teasle sich daran gewöhnt hatte, ihn einfach- Orval zu nennen, und diese Gewohnheit hatte er beibehalten. Das Essen am Freitagabend.
Während sie kochte, waren Orval und er draußen bei den Hunden. Vor dem Essen nahmen sie einen Drink – nur er und Mrs.
Kellerman, weil Orval damals das Trinken schon aufgegeben hatte und nur noch Tomatensaft mit Salz und Tabasco trank.
Teasle erinnerte sich, wie sie sich gestritten hatten und die ge-meinsamen Mahlzeiten aufhörten. Warum hatte er nicht nachgegeben? War es wirklich so wichtig, wie man eine Revolver-tasche umschnallte oder einen Hund trainierte, daß man sich darüber streiten mußte? War es, weil Orval langsam alt wurde und Angst davor hatte und sich bestätigen mußte? Vielleicht hingen sie so sehr aneinander, daß jede Meinungsverschieden-203
heit als Verrat betrachtet wurde und sie sich darüber streiten mußten. Vielleicht mußte ich ihm unbedingt beweisen, daß ich kein Kind mehr war, dachte Teasle, und Orval konnte es nicht vertragen, wenn sein Pflegesohn auf eine Weise mit ihm sprach, wie er es seinem Vater gegenüber nie gewagt hätte.
Mrs. Kellerman war achtundsechzig. Sie war vierzig Jahre lang mit Orval verheiratet gewesen. Was sollte sie jetzt ohne ihn anfangen? Für wen würde sie jetzt kochen? Für wen sauberma-chen und Wäsche waschen?
Wahrscheinlich für mich, dachte Teasle.
Und was war mit Shingleton? Die Wettbewerbe im Schie-
ßen, bei denen sie gemeinsam ihr Polizeirevier vertreten hatten.
Auch Shingleton hatte eine Frau und drei kleine Kinder. Was würde sie jetzt machen? Sich eine Stellung suchen, das Haus verkaufen und einen Babysitter nehmen, während sie bei der Arbeit war? Und wie soll ich den beiden Frauen erklären, warum ihre Männer tot sind? Er hätte beide schon vor Stunden anrufen müssen, hatte es aber nicht fertiggebracht.