In Musik, Baukunst, Bildhauerei und Malerei war Wien der
Brunnen, der in unerschöpflicher Fülle die ganze Doppelmonarchie versorgte, ohne jemals selber
sichtlich zu versiegen.
Das Deutschtum war endlich noch der Träger der gesamten Außenpolitik, wenn man von den der Zahl
nach wenigen Ungarn absieht.
Dennoch war jeder Versuch, dieses Reich zu erhalten, vergeblich, da die wesentlichste Voraussetzung
fehlte.
Gür den österreichischen Völkerstaat gab es nur eine Möglichkeit, die zentrifugalen Kräfte bei den
einzelnen Nationen zu überwinden. Der Staat wurde entweder zentral regiert und damit aber auch
ebenso innerlich organisiert, oder er war überhaupt nicht denkbar.
In verschiedenen lichten Augenblicken kam diese Einsicht auch der "Allerhöchsten" Stelle, um aber
zumeist schon nach kurzer Zeit vergessen oder als schwer durchführbar wieder beiseitegetan zu werden.
Jeder Gedanke einer mehr föderativen Ausgestaltung des Reiches mußte zwangsläufig infolge des
Fehlens einer starken staatlichen Keimzelle von überragender Macht fehlschlagen. Dazu kamen noch die
wesentlich anderen inneren Voraussetzungen des österreichischen Staates gegenüber dem Deutschen
Reiche Bismarckscher Fassung. In Deutschland handelte es sich nur darum, politische Tradition zu
überwinden, da kulturell eine gemeinsame Grundlage immer vorlag. Vor allem besaß das Reich, von
kleinen fremden Splittern abgesehen, nur Angehörige eines Volkes.
In Österreich lagen die Verhältnisse umgekehrt.
Hier fiel die politische Erinnerung eigener Größe bei den einzelnen Ländern, von Ungarn abgesehen,
entweder ganz fort, oder sie war vom Schwamm der Zeit gelöscht, mindestens aber verwischt und
undeutlich. Dafür entwickelten sich nun im Zeitalter des Nationalitätenprinzips in den verschiedenen
Ländern völkische Kräfte, deren Überwindung in eben dem Maße schwer werden mußte, als sich am
Rande,
{077 Zentrifugale Kräfte der Völker Österreichs}
der Monarchie Nationalstaaten zu bilden begannen, deren Staatsvölker, rassisch mit den einzelnen
österreichischen Volkssplittern verwandt oder gleich, nunmehr ihrerseits mehr Anziehungskraft
auszuüben vermochten, als dies umgekehrt dem Deutschösterreicher noch möglich war.
Selbst Wien konnte auf die Dauer diesen Kampf nicht mehr bestehen.
Mit der Entwicklung von Budapest zur Großstadt hatte es zum ersten Male eine Rivalin erhalten, deren
Aufgabe nicht mehr die Zusammenfassung der Gesamtmonarchie war, sondern vielmehr die Stärkung
eines Teiles derselben. In kurzer Zeit schon sollte Prag dem Beispiel folgen, dann Lemberg, Laibach
usw. Mit dem Aufstieg dieser einstmaligen Provinzstädte zu nationalen Hauptstädten einzelner Länder
bildeten sich nun auch Mittelpunkte für ein mehr und mehr selbständiges Kulturleben derselben. Erst
dadurch aber erhielten die völkisch-politischen Instinkte ihre geistige Grundlage und Vertiefung. Es
mußte so einmal der Zeitpunkt herannahen, da diese Triebkräfte der einzelnen Völker mächtiger wurden
als die Kraft der gemeinsamen Interessen, und dann war es um Österreich geschehen.
Diese Entwicklung lies sich seit dem Tode Josephs II. in ihrem Laufe sehr deutlich feststellen. Ihre
Schnelligkeit war von einer Reihe von Faktoren abhängig, die zum Teil in der Monarchie selber lagen, zum anderen Teil daher das Ergebnis der jeweiligen außenpolitischen Stellung des Reiches bildeten.
Wollte man den Kampf für die Erhaltung dieses Staates ernstlich aufnehmen und durchfechten, dann
konnte nur eine ebenso rücksichtslose wie beharrliche Zentralisierung allein zum Ziele führen. Dann
mußte aber vor allem durch die prinzipielle Festlegung einer einheitlichen Staatssprache die rein
formelle Zusammengehörigkeit betont, der Verwaltung aber das technische Hilfsmittel in die Hand
gedrückt werden, ohne das ein einheitlicher Staat nun einmal nicht zu bestehen vermag. Ebenso konnte
nur dann auf die Dauer durch Schule und Unterricht eine einheitliche Staatsgesinnung herangezüchtet
werden. Dies war nicht in zehn oder
{078 Folgen blutsmäßiger Verschiedenheit}
zwanzig Jahren zu erreichen, sondern hier mußte man mit Jahrhunderten rechnen, wie denn überhaupt in
allen kolonisatorischen Fragen der Beharrlichkeit eine größere Bedeutung zukommt als der Energie des
Augenblicks.
Daß dann die Verwaltung sowohl als auch die politische Leitung in strengster Einheitlichkeit zu führen
sind, versteht sich von selbst.
Es war nun für mich unendlich lehrreich, festzustellen, warum dies nicht geschah, oder, besser, warum
man dies nicht getan. Nur der Schuldige an dieser Unterlassung war der Schuldige am Zusammenbruche
des Reiches.
Das alte Österreich war mehr als ein anderer Staat gebunden an die Größe seiner Leitung. Hier fehlte ja
das Fundament des Nationalstaates, der in der völkischen Grundlage immer noch eine Kraft der
Erhaltung besitzt, wenn die Führung als solche auch noch so sehr versagt. Der einheitliche Volksstaat
kann vermöge der natürlichen Trägheit seiner Bewohner und der damit verbundenen Widerstandskraft
manchmal erstaunlich lange Perioden schlechtester Verwaltung oder Leitung ertragen, ohne daran
innerlich zugrunde zu gehen. Es ist dann oft so, als befinde sich in einem solchen Körper keinerlei
Leben mehr, als wäre er tot und abgestorben, bis plötzlich der Totgewähnte sich wieder erhebt und nun
staunenswerte Zeichen seiner unverwüstlichen Lebenskraft der übrigen Menschheit gibt.
Anders aber ist dies bei einem Reiche, das aus nicht gleichen Völkern zusammengesetzt, nicht durch das
gemeinsame Blut, als vielmehr durch eine gemeinsame Faust gehalten wird. Hier wird jede Schwäche
der Leitung nicht zu einem Winterschlaf des Staates führen, sondern zu einem Erwachen all der
individuellen Instinkte Anlaß geben, die blutsmäßig vorhanden sind, ohne sich in Zeiten eines
überragenden Willens entfalten zu können. Nur durch jahrhundertelange gemeinsame Erziehung, durch
gemeinsame Tradition, gemeinsame Interessen usw. kann diese Gefahr gemildert werden. Daher werden
solche Staatsgebilde, je jünger sie sind, um so mehr von der Größe der Führung abhängen, ja als Werk
überragender Gewaltmenschen und
{079 Joseph II.}
Geistesheroen oft schon nach dem Tode des einsamen großen Begründers wieder zerfallen. Aber noch
nach Jahrhunderten können diese Gefahren nicht als überwunden gelten, sie schlummern nur, um oft